- Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des Körperinnern
- Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des KörperinnernSomatosensorik heißt wörtlich übersetzt Körperfühligkeit. Der Name passt gut zu den Sinneszellen in den Eingeweiden, Gelenken und für die Temperatur- und Schmerzsinneszellen, soweit sie uns Zustände des eigenen Körpers melden. Zur Somatosensorik gehören aber auch Wahrnehmungen über die Außenwelt. Wir erfahren durch die Hautsinne viel über die Gegenstände der Umgebung, wenn wir mit ihnen in Berührung kommen. Die Richtung zur Sonne und zu anderen Wärmestrahlern spüren wir sogar ohne Berührung. Die somatosensorischen Sinnesleistungen bilden keine einheitliche Gruppe, die unter einer Definition einfach zusammengefasst werden könnte.Die meisten somatosensorischen Funktionen haben eines gemeinsam: die Sinnesnervenzelle. Bei diesem Sinneszelltyp befinden sich die Zellkörper mit den Zellkernen in den Spinalganglien (Einzahl: Ganglion, griechisch: Nervenknoten) dicht am Rückenmark. Die äußeren Nervenfortsätze reichen von dort in alle Körperteile, zum Beispiel bis in die Fingerspitzen und zu den Zehen. Die Fortsätze können somit mehr als einen Meter lang werden. In den Reizgebieten bilden die Sinnesnervenzellen verzweigte freie Nervenendigungen oder sind mit Hilfsstrukturen ausgestattet.Die Informationsverarbeitung im NervensystemDie somatosensorischen Sinneszellen liefern das vielleicht beste Beispiel für die parallele Informationsverarbeitung im Nervensystem, weil jeder Typ selektiv auf spezielle Eigenschaften der Reize reagiert, wie zum Beispiel auf die Bewegung der Haare, auf Verformungen der Haut, Temperaturerhöhungen oder Verletzungen des Gewebes. Die Reizspezifität, das heißt die selektive Empfindlichkeit, wird durch die Proteinausstattung der Zellmembran im empfindlichen Bereich der Nervenendigungen eingegrenzt, ferner durch Hilfsstrukturen und schließlich durch die Lage in den verschiedenen Hautschichten, inneren Organen, Sehnen oder Gelenken. Die Zuordnung der verschiedenen Sinneszelltypen zu ihrer physiologischen Funktion war in den letzten 100 Jahren die wichtigste Aufgabe bei der Erforschung der Somatosensorik.Einen großen Fortschritt brachten die erst in den Siebziger-Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten Empfindungspunkte der Haut. Zwar scheint es der Erfahrung zu widersprechen, aber es ist wirklich so: Die Empfindlichkeit für kalt, warm, Berührung und Schmerz ist auf Punkte der Haut beschränkt. Am besten lässt sich das mit einer Metallsonde, zum Beispiel einem etwas zugespitzten großen Nagel, nachweisen. Schon bei Zimmertemperatur wirkt er kühl. Wurde er im Kühlschrank noch weiter abgekühlt, löst er schon ohne Berührung eine deutliche Kaltempfindung aus, wenn die Metallspitze dicht über einen Kaltpunkt der Haut gehalten wird. Aber auch wenn sie die Haut berührt, kann man deutlich zwischen Berührung mit und ohne Kaltempfindung unterscheiden.Für den Nachweis von Schmerzpunkten eignen sich spitze Kaktusstacheln oder sehr feine Nadelspitzen. Druckpunkte liegen hier immer über einem Haarbalg. Wahrscheinlich sind die den Haarbalg umspinnenden Nervenfasern für die Erregung verantwortlich. Die Druckpunkte stehen an den Fingerbeeren, den Lippen und auf der Zunge sehr viel dichter als am Oberarm oder Rücken. Dem entspricht die Anzahl der Endigungen von Sinnesnervenzellen in diesen Hautgebieten, aber auch die Größen der Areale auf der Großhirnrinde, zu denen diese Hautgebiete ihre Erregung melden. Besonders gut sind die Tastleistungen der Fingerbeeren. Von dort melden aus einem Gebiet von einem Quadratzentimeter 300 verzweigte Nervenfasern mechanische Reize von 2 400 Rezeptorstrukturen. Durch die Kombination von elektrophysiologischen, neuroanatomischen und nicht zuletzt psychophysischen Methoden mit Berührungssonden wurde diesen Nervenendigungen 1 500 Meißner-Tastkörperchen, 750 Merkel-Tastscheiben und je 75 Pacini- und Ruffini-Körperchen zugeordnet.Besonders interessant sind elektrophysiologische Experimente an Hautnerven, die Aufschluss über die Reizspezifität einer Nervenfaser geben. Es stellte sich heraus, dass es Nervenfasern gibt, die von einem Reiz nur Anfang und Ende und solche, die auch den anhaltenden Reizzustand melden. Nervenfasern, die nur Anfang und Ende des Reizes mit Aktionspotenzialen beantworten, heißen schnell adaptierende oder FA-Fasern (FA nach englisch fast adapting), solche, die während der ganzen Dauer des Reizes feuern, langsam adaptierende oder SA-Fasern (SA nach englisch slowly adapting). Ein weiteres Ordnungsmerkmal ist die Leitungsgeschwindigkeit der somatosensorischen Nervenfasern. Die schnellsten Fasern (Typ Aα, Leitungsgeschwindigkeit 80—100 m/s) kommen von den Muskelspindeln, die langsamsten (Typ C, 0,5—2 m/s) vorwiegend von den Eingeweiden.Die Wissenschaftler entwickelten das Experiment weiter, sodass es außer der Reizspezifität der Sinnesnervenzellen auch noch zeigte, welche Sinnesempfindungen die Aktionspotenziale der verschiedenen Nervenfasern hervorrufen. Bei sehr kleinen Reizen merkt eine Versuchsperson nichts. Wenn aber bei gesteigerter elektrischer Reizung eine erste Schwelle überschritten wird, kann es geschehen, dass sie etwas Merkwürdiges, nicht recht Definierbares spürt. Bei weiterer Reizverstärkung kann sich dann eine sichere Empfindung einstellen, eine Elementarempfindung, welche die gereizte Nervenfaser hervorruft. Handelt es sich um eine Berührungsempfindung, so kann sie von den Merkel-Tastscheiben stammen oder von Haarbalgrezeptoren. Eine Vibrationsempfindung entspräche einem Pacini-Körperchen, Die Versuchsperson erlebt die Empfindungen so, als entstünden sie in bestimmten begrenzten Hautbereichen, obwohl sie durch Reizung der Nerven an ganz anderer Stelle hervorgerufen werden. Die gespürte Größe des Hautareals entspricht der Größe des rezeptiven Feldes.Bei stärkeren elekrischen Reizen im Hautnerv spürt die Versuchsperson manchmal gleichzeitig verschiedene Empfindungen an verschiedenen Hautstellen. Das ist nicht überraschend, weil mehr als eine Nervenfaser auf die stärkeren elektrischen Reize reagieren. So kann die Berührung an einem Finger und die Vibration am Handballen gleichzeitig wahrgenommen werden. Wie schon erwähnt, können nicht alle somatosensorischen Sinneszellen bewusste Wahrnehmungen verursachen. Für die Ruffini-Körperchen der Haut ist bislang nur die Reizspezifität bekannt, aber noch keine Empfindung. Ob die Erregung der Sinnesnervenzellen Empfindungen hervorruft und welche, hängt von den neuronalen Verbindungen der Sinnesbahnen im Gehirn ab.Der Körper ist auf der Großhirnrinde abgebildetReize an verschiedenen Körperstellen führen zu elektrophysiologischen Signalen in den zugehörigen Großhirnarealen. Darum kann die Oberfläche des Gehirns in Narkose mit Elektroden kartiert werden. Es stellt sich heraus, dass die Hautoberfläche auf das Großhirn somatotopisch abgebildet ist, das heißt, die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Orten (griechisch: topos) auf dem Körper (griechisch: soma) bleiben bei den Arealen der Hirnrinde erhalten. Die Größenverhältnisse sind im Großhirn allerdings ganz anders als auf der Haut. Hautbereiche mit guten Tastleistungen, wie Fingerbeere, Zunge und Lippen, sind in der somatotopen Projektion auf das Großhirn vergrößert, Körperteile mit weniger guten Unterscheidungsleistungen sind relativ kleiner abgebildet. Hirnoperationen mit wachen Patienten bestätigen das Ergebnis der Kartierung. Lokale elektrische Reize somatosensorischer Großhirnfelder rufen Empfindungen wie Berührung, Wärme oder Vibration an jeweils ganz bestimmten Körperstellen hervor. Das ist auch ein Hinweis dafür, dass die Reizspezifität der Nervenfasern bis ins Großhirn hinein erhalten bleibt.Somatotope Projektionen sind kompliziert zusammengesetzt. Im Prinzip versorgt jedes Spinalganglion einen bestimmten Hautbereich, der nach den zugehörigen Segmenten des Rückenmarks benannt ist. Die Sinnesnervenzellen aus einem Hautbereich führen aber nicht alle zum selben Spinalganglion und können auf mehrere benachbarte verteilt sein. Bei der Schädigung einer zentralen Region kann eine genau begrenzte Zone der Gefühlslosigkeit in der Haut entstehen, bei der Verletzung eines peripheren Nervs sind die Grenzen zwischen dem gefühlstauben und dem normalen Hautareal aber fließend.Im Rückenmark werden Erregungen der Mechanorezeptoren der Haut, der Muskeln und Gelenke durch die Hinterstrangbahn geleitet, die Temperatur- und Schmerzfasern überwiegend durch die Vorderseitenstrangbahn auf der Gegenseite. Im Stammhirn laufen die Bahnen der Hinterstrangbahn zur Gegenseite, sodass die linke Körperseite in die rechte Großhirnhälfte und die rechte Seite in die linke Hälfte projiziert wird. Es gibt zwei parallele somatotopische Projektionsareale, S1 und S2, die nochmals in parallel funktionierende Großhirnrindenfelder unterteilt sind.Signale benachbarter Hautstellen können in der aufsteigenden Bahn durch laterale (seitliche) Hemmung in der somatosensorischen Sinnesbahn im Gehirn aufeinander einwirken. Mit anderen Worten: Ein Reiz an einer Stelle der Haut löst in einer Nervenzelle im Gehirn Aktionspotenziale aus, die durch einen Reiz an einer benachbarten Hautstelle wieder unterdrückt werden können. Das Hautareal, das die Erregung der Nervenzelle verstärkt oder hemmt, heißt rezeptives Feld. Ein Reiz aktiviert an jeder Hautstelle viele Sinneszellen, deren rezeptive Felder überlappen. Durch die wechselseitige Hemmung werden die wirksamen Reizbereiche klein gehalten. Fällt die Hemmung weg, werden die rezeptiven Felder der somatosensorischen Nervenzellen im Gehirn größer.Die somatotope Karte der Großhirnrinde ist, wie Untersuchungen mit Nachtaffen zeigen, entsprechend der Meldungen der verschiedenen Sinneszelltypen, noch weiter unterteilt. Wenn man mit einer Mikroelektrode senkrecht zur Oberfläche einsticht, findet man hintereinander Zellen, die nicht nur auf dasselbe Körperareal reagieren, sondern auch auf denselben Sinneszelltyp. Innerhalb eines Areals sind somit die reiz- und empfindungsspezifischen Nervenzellen säulenartig nebeneinander angeordnet.Die Ordnung in der somatosensorischen Großhirnrinde kann sich ändern, wenn Gliedmaßen amputiert werden. Bei dem Nachtaffen wurden die Nervenverbindungen von einer Hälfte einer Hand zum Gehirn unterbrochen. Die Großhirnareale der anderen Handhälfte, die noch unversehrte Nervenverbindungen zum Gehirn hatte, vergrößerten sich daraufhin. Das bedeutet, dass Nervenzellen, die vor der Unterbrechung auf Reizung eines bestimmten Fingers reagierten, danach die Reizung eines anderen beantworten. Die somatotope Abbildung der Körperoberfläche auf das Großhirnareal S1 ist somit nicht starr, sondern plastisch. Sie hängt von den eintreffenden Erregungen ab und ändert sich nach Ausfällen der Erregungseingänge wegen einer Amputation oder einer Nervenunterbrechung. Die Veränderungen sind reversibel, wenn der unterbrochene Nerv wieder nachwächst.Die Erregung der Eingangsareale in der Großhirnrinde wird auch zu benachbarten Feldern weitergeleitet. Dabei werden die rezeptiven Felder der jeweils nachgeschalteten Nervenzellen immer größer und ihre Reizantwort komplizierter. Diese höheren Nervenzellen reagieren auf mehrere Sinneszellarten in bestimmten Kombinationen. Sie repräsentieren ein höheres Verarbeitungsniveau auf dem Weg zu den somatosensorischen Wahrnehmungen.Prof. Dr. Christoph von Campenhausen, MainzWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Tastwahrnehmungen und TemperaturwahrnehmungenSchmerz: Entstehung und körpereigene SchmerzmittelGliedmaßen: Die Wahrnehmung ihrer Stellung und Phantomschmerzen
Universal-Lexikon. 2012.